Warum die Deutschen viel besser sind als ihr Ruf
Von Henryk M. Broder 25. November 2009
"Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht" – dieser Satz gilt nicht mehr. Die Deutschen widmen sich zwanghaft der Vergangenheit, pflegen ein idealisiertes Demokratiebild und sind über-tolerant. Und doch: Wir sind wieder wer, auf eine entspannte, freundliche und unaggressive Weise.
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Es ist mir egal, ob die deutsche National-Elf die WM oder auch nur ein Freundschaftsspiel gegen die Auswahl von Gabun gewinnt, dafür freue ich mich, wenn ein Deutscher einen Nobelpreis bekommt oder mit den Amerikanern in den Weltraum fliegt. Und wenn ich am Pariser Platz bei „Starbucks“ auf der Ostseite des Brandenburger Tores sitze und in westliche Richtung schaue, kommt in mir ein Gefühl der Freude auf: Wir sind wieder wer, auf eine entspannte, freundliche und unaggressive Art und Weise.
Noch heute, mehr als 50 Jahre später, träume ich, wir wären in Polen geblieben. Wenn ich dann schweißgebadet aufwache, schalte ich sofort das Fernsehen ein. Meldet sich Harald Schmidt, weiß ich, es war nur ein Albtraum. Allerdings: Ist es der Heimatabend der Volksmusik mit Florian Silbereisen, geht der Albtraum munter weiter.
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Oskar Lafontaine, dem wir von dieser Stelle eine rasche Genesung wünschen, hat vor Kurzem während einer Bundestagsdebatte erklärt, die Bundesrepublik erfülle nicht mehr die „Kriterien einer Demokratie“. Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört, dann wartete ich darauf, dass sich der Boden unter Oskar Lafontaine auftut und ihn verschluckt, schließlich wäre mir eine kleine Klarstellung genug gewesen: Wenn die Bundesrepublik keine Demokratie mehr ist, was ist sie dann?
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Ja, Deutschland ist schon ein seltsames Land. Die deutsche Idealvorstellung von einer Demokratie ist die einer Puppenstube.
Sauberkeit ist nicht das Ziel, sondern nur ein Mittel zum Zweck. Und wann immer ein Skandal die Bundesrepublik erschüttert, wird die Frage nach der Belastbarkeit der Demokratie gestellt. Tatsächlich aber sind Skandale das Schmieröl der Demokratie.
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Das sind Momente, in denen man die Staatsdiener daran erinnern möchte, dass sie nur Diener auf Zeit und nicht Erben von Latifundien sind. Wir sind nicht nur das Volk, wir sind auch die Arbeitgeber, die von unseren Angestellten erwarten können, dass sie ihren Job ordentlich erledigen.
Noch schlimmer sind nur noch Politiker, die sich als Therapeuten und Bewährungshelfer verstehen.
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Zugleich wird in der Bundesrepublik eine absurde Debatte geführt, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Rund die Hälfte der ehemaligen DDR-Bürger meint, sie war es nicht. Aber was war sie dann, wenn kein Unrechtsstaat? Kann es zwischen Rechtsstaat und Unrechtsstaat noch ein Drittes geben? So, wie der Alkoholismus der Dritte Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus ist? Nein, kann es nicht. Aber das hält die Hälfte der Ossis nicht davon ab, sich ihre DDR schönzureden, sozusagen als Nationalsozialismus mit menschlichem Antlitz, in dem man relativ gut leben konnte, wenn man auf saubere Luft, frisches Gemüse und sichere Privatsphäre keinen Wert legte.
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Wenn man allerdings Auschwitz zum Maßstab nimmt, hat man keine Maßstäbe mehr, dann ist jede andere Form der Menschenverfolgung und Menschenvernichtung nicht ein Kapitalverbrechen, sondern allenfalls ein Vergehen.
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Die Deutschen lassen sich auch gerne als fremdenfeindlich beschimpfen und gehen auf die Straße, um „gegen rechts“ zu demonstrieren. Und „rechts“ sind nicht nur die Skins aus der Sächsischen Schweiz und die Neonazis aus der Lausitz, „rechts“ ist alles, das nicht multikulti ist. Wer zum Beispiel Einwände gegen den Bau von Moscheen erhebt, hat sich automatisch als „rechts“ geoutet. Wenn dagegen eine linke SA Nacht um Nacht Autos in Berlin abfackelt, dann diskutieren „taz“-Redakteure und „taz“-Leser miteinander darüber, welche Autos mit welcher Begründung abgefackelt werden dürfen.
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Die Deutschen sind auch ungemein tolerant. Ein Berliner Verwaltungsgericht hat es einem bekannten Dschihadisten erlaubt, seinen Sohn „Dschihad“, Heiliger Krieg, zu nennen, nachdem sich ein engstirniger Standesbeamter geweigert hatte, den Namen in die Geburtsurkunde einzutragen. Das gleiche Gericht hat eine Berliner Schule verpflichtet, einem muslimischen Schüler einen eigenen Gebetsraum zur Verfügung zu stellen, damit er seine religiösen Pflichten auch während des Unterrichts erfüllen kann.
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Ein Volk, das sich von Günter Wallraff verarschen, von Carmen Nebel unterhalten und von Greenpeace erpressen lässt, das den Müll trennt und Ablassgeld für Reisen in die Karibik zahlt, ein solches Volk kann nur besser als sein Ruf sein. Denk ich an Deutschland, bei Tag oder bei Nacht, verhagelt es mir weder den Appetit noch den Schlaf.
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