Ein,wie ich glaube lesenswerter Artikel.
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von Rafael Seligmann
Nun, da die Seifenblase des Skandälchens um Michel Friedman zerplatzt, ist es Zeit, die Gelegenheit für eine Normalisierung des deutsch-jüdischen Verhältnisses wahrzunehmen.
Seit siebzehnhundert Jahren leben Juden in Deutschland. Die deutsch-jüdische Symbiose war vitale Wirklichkeit. An der Wende zum 20. Jahrhundert wurden die Städte Wien, Berlin und Prag zu kulturellen, politischen, wirtschaftlichen, publizistischen, ja selbst religiösen Mittelpunkten jüdischen Lebens und gleichzeitig eines deutsch-jüdischen Zusammenwirkens. Franz Kafka, Karl Kraus, Albert Einstein, Lise Meitner, Max Liebermann, Lesser Ury, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, AEG-Gründer Emil Rathenau, sein Sohn Walther, Eugen Gutmann, der Gründer der Dresdner Bank, Max Reinhardt, Kurt Weill, der Journalist Theodor Wolff sind fester Bestandteil der Historie von Deutschen und Juden.
Doch nach dem Völkermord war die einst selbstbewusste jüdische Gemeinschaft, die sich als Teil der deutschen Gesellschaft verstand, zum verschreckten Häuflein geraten. Aus deutschen Juden waren Juden auf der Durchreise geworden. Wer damals als Jude im Land der Täter von einst verweilte, wurde von den Hebräern in aller Welt - und dem eigenen Gewissen - verachtet. Die Deutschen (Nichtjuden) wiederum wollten ihren "jüdischen Mitbürgern" nicht zu nahe treten. So verharrten Deutschlands Juden Jahrzehnte im Getto ihrer Ängste.
Erst in den achtziger Jahren, als die Kinder der Tätergeneration das geistige Leben Deutschlands zu bestimmten begannen, brach die deutsch-jüdische Angststarre allmählich auf. Jüdische Intellektuelle wollten nicht länger schweigen: Sie schrieen und schrieben sich Furcht und Zorn von der Seele.
In Frankfurt protestierten Gemeindemitglieder gegen das Fassbinder/Zwerenz-Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod". Derweil warfen jüdische Autoren der vermeintlich antifaschistischen Linken vor, den Antijudaismus ihrer Eltern fortzusetzen. Der Zionismus erlebte unter jüdischen Jugendlichen eine Renaissance. Viele, unter ihnen die Frankfurter Lehrerin Lea Fleischmann, wanderten nach Israel aus. Doch sie blieben ihrer deutschen Muttersprache verhaftet und schrieben für das deutsche Publikum. Die meisten hielten es im verheißenen Israel nicht lange aus und kehrten heimlich nach Deutschland zurück.
Derweil nahm das deutsch-jüdische Verhältnis eine schiefe Entwicklung. Seine Ausgeburt war der "Musterjude". Angst, die Juden zu verletzten, mehr noch Feigheit, sich in den Fallstricken der politischen Korrektheit zu verfangen und als Antisemit zu gelten, vor allem aber das opportunistische Bestreben, die eigenen Ansichten durch einen jüdischen Koschermacher unanfechtbar zu machen, ließ deutsche Unternehmen und Medien nach "Musterjuden", also Bauchrednern in eigener Sache Ausschau halten. Michel Friedman ist, wie andere auch, in diese Musterjudenfalle getappt. Da er einen helleren Kopf und ein schnelleres Mundwerk besitzt als andere, war er vermessen genug zu glauben, den Tiger der Political Correctness in Deutschland reiten zu können. Das alles hat mit Judentum, zumal mit der deutsch-jüdischen Geschichte, wenig zu tun. Doch sein Bekenntnis verlieh Friedman die Aura eines Nathan, eines vermeintlich unfehlbaren Zeitgenossen. Nun erweist sich, dass Friedman so wenig gegen die Versuchung gefeit ist wie jeder andere. Er hat dies selbst erkannt und die richtigen Konsequenzen gezogen.
Vor Wochen meinte Salomon Korn, die Causa Friedman werde den Grad der deutsch-jüdischen Normalität erweisen. Das ist eingetreten. Für Michel Friedman gilt der gleiche Maßstab wie für jedermann. Er musste keine Benachteiligung erleiden, genoss aber auch keine Privilegien. Die Ermittlungen gegen Friedman wurden ohne Ansehen der Person durchgeführt. Von antisemitischen Anhaftungen keine Spur. Die Presse berichtet fair über das Verfahren. Christoph Daum musste sich einst mehr gefallen lassen. Eine antisemitische Hetzkampagne hat es gewiss nicht gegeben.
Michel Friedman ist kein zweiter Hauptmann Dreyfus, der auf Grund einer antisemitischen Intrige von der französischen Militärjustiz auf die Teufelsinsel verbannt wurde. Damals, 1896, erkannte der Wiener Korrespondent Theodor Herzl die Gefahr des heraufziehenden europäischen Antisemitismus und verfasste - in deutscher Sprache - das Buch "Der Judenstaat". Es wurde zum Gründungsmanifest des politischen Zionismus und damit des Staates Israel. Heute ist der relativ unaufgeregte Umgang mit dem Friedman-Affärchen ein ermutigendes Zeichen für die Normalisierung im deutsch-jüdischen Verhältnis. Der Musterjude hat endlich ausgedient. Michel Friedman wird nach seinem Fall mit unser aller Hilfe wieder auf die Beine kommen. Im Moment erscheinen andere geeignet, das Judentum zu repräsentieren. Es gilt der gleiche Standard wie für einen Vertreter der deutschen Katholiken, Protestanten und so weiter.
Gelingt es uns, die Causa Friedman human und gelassen abzuhandeln, dann hat das deutsch-jüdische Verhältnis wieder eine verheißungsvolle Zukunft. Es würde aufsteigen vom Objekt des Bedauerns zum Subjekt eines fruchtbaren Miteinanders.
Quelle:"Die Welt" vom 9.7.03