Generalmajor Schultze-Rhonhof über sein Buch „Der Krieg, der viele Väter hatte“ und Meinungsfreiheit in der Bundeswehr
Generalmajor a. D. Gerd Schultze-Rhonhof war 37 Jahre Soldat der Bundeswehr, zuletzt als Territorialer Befehlshaber für Niedersachsen und Bremen. 1996 wurde er nach kritischen Äußerungen in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Im Januar 2005 ist sein Buch „1939 – Der Krieg, der viele Väter hatte“ in dritter Auflage erschienen. Danach belegen Dokumente, dass eine ganze Anzahl von Machthabern den Zweiten Weltkrieg anzettelten. Schultze-Rhonhof ist einer der zwölf Bundeswehr-Generale a. D., die in einer am vergangenen Samstag erschienenen Zeitungsanzeige festhalten: „Mit dem Kriegsende verbindet sich für uns auch die Erinnerung an die Vertreibung von 15 Millionen Deutschen aus ihrer angestammten Heimat, an den Verlust fast eines Viertels unseres Landes und an den Beginn der sowjetischen Unterdrückung Osteuropas.“ Gerhard Frey jr. hat mit Generalmajor Schultze-Rhonhof gesprochen.
National-Zeitung: Herr General, welche Idee liegt Ihrem Buch „1939 – Der Krieg, der viele Väter hatte“ zugrunde?
Schultze-Rhonhof: Während der so genannten Wehrmachtausstellung – die ich mir angesehen habe und die ja doch zunächst einmal beeindruckend war, auch wenn man mit einiger Sachkunde merkte, dass da etliche Dinge nicht stimmten – habe ich mich gefragt: Was hat die Generation meines Vaters dazu bewegt, einem Diktator in einen und durch einen neuen Krieg zu folgen? Ich habe damals vermehrt ausländische Geschichtsliteratur gelesen. Und die hat mich zu der Frage gebracht: Wer hat eigentlich diesen Krieg angezettelt? Ich bin darauf gekommen, dass so manches anders ablief, als wir das aus der gängigen deutschen Zeitgeschichtsschreibung kennen.
National-Zeitung: Immer wieder taucht in Ihrem Werk die Frage auf: Was wussten die Menschen damals, wie viel konnten sie wissen? Zum Beispiel durch die Lektüre von „Mein Kampf“.
Schultze-Rhonhof: Ganz erstaunlich ist in diesem Zusammenhang das Vorwort, das Professor Eberhard Jäckel 1968 zu der Neuauflage von Theodor Heuss’ Buch „Hitlers Weg“ von 1931 geschrieben hat. Heuss’ Kritik an Hitler war ausgesprochen sachlich. Jäckel war sich der Problematik dieser Sachlichkeit bewusst und schrieb: „Seit dem September 1930 war Hitler nicht nur im Ton maßvoller. Auch in der Sache sprach er anders... Wer mochte ‚Mein Kampf’ und die früheren Reden wörtlich nehmen, nachdem Hitler das selbst desavouierte?“ Man hat Heuss zugute gehalten, was man jedem Deutschen zugute halten müsste. Man muss immer die Perspektive des Menschen von damals im Auge behalten, um die Zeit zu verstehen. Wenn wir die Vergangenheit mit unseren heutigen Maßstäben messen, ist das so, als ob man Cäsar vorwürfe, dass er keinen Laptop benutzt hat.
National-Zeitung: In „Mein Kampf“ kommt immerhin eine Denkweise zum Ausdruck, nach der sich der Stärkere und Rücksichtslosere durchsetzt. Das scheint eine Schlussfolgerung zu sein, die Hitler aus dem Ersten Weltkrieg zog, in dem ein Mann wie Ministerpräsident Clemenceau, genannt „der Tiger“, durch unbarmherzige Politik zum „Vater des Sieges“ wurde.
Schultze-Rhonhof: Das Weltkriegserlebnis hat Hitler sicherlich mit zu dem gemacht, der er war. Der Darwinismus war ja vorherrschende Denkungsart auch in England und in Frankreich. Aber so zu denken und so zu handeln, ist zweierlei. Wenn ich zum Beispiel feststelle, dass „Frechheit siegt“, was im Leben oft der Fall ist, heißt das noch lange nicht, dass ich dann auch frech bin.
National-Zeitung: Nun hat Hitler aber in vielem auch so gehandelt.
Schultze-Rhonhof: Man geht heute meist davon aus, Hitler habe den Krieg nach einem früh entworfenen „Langzeitplan“ geführt. Er habe zum Beispiel als 34-Jähriger in „Mein Kampf“ seine Lebensraumpolitik dargestellt und später entsprechend gehandelt. Das bezeichne ich als deduktive Betrachtungsweise. Man entwirft ein Gesamtbild und in das müssen sich dann alle Details einfügen. Wenn Tatsachen in dieses Bild nicht passen, werden sie von der heutigen Zeitgeschichtsschreibung unterschlagen. Ich bin induktiv vorgegangen und habe mir aus den Details das Gesamtbild erarbeitet. Ich habe viele, viele Einzelheiten gefunden, von denen ich feststellte: sie passen nicht in das vorgegebene Bild. Zu der Annahme, dass Hitler Kolonien in der Sowjetunion anstrebte, passt beispielsweise nicht, dass er die Wehrmacht nicht für einen Ostfeldzug hatte ausrüsten lassen. Man verfügte weder über Fernbomber noch über Winterausrüstung. Dazu passt auch nicht, dass Hitler immer wieder versuchte, um den Polenfeldzug herumzukommen. Er hat den Angriff dreimal verschieben lassen, immer mit der Begründung, er brauche noch Zeit zum Verhandeln. Als er in Polen eingerückt war, wusste er offensichtlich nicht – das geht aus Gesprächen hervor –, was er nach dem Krieg mit Polen machen soll. Als Polen erobert war, bot er an, dass Deutschland sich wieder aus Polen zurückzieht. Vorher schon war ihm beim Auseinanderfallen der Tschechoslowakei im März 1938 die Schutzherrschaft über die ehemals habsburgische Karpatho-Ukraine angetragen worden. Wenn er wirklich die Ukraine hätte haben wollen, hätte er sagen können: Da habe ich meinen Nukleus, damit fange ich an. Aber er sagte Nein zu diesem Angebot. Nach dem Polenfeldzug und vor dem Russlandfeldzug ließ er in Übereinstimmung mit den Sowjets die Deutschen aus der Ukraine und aus den baltischen Staaten nach Westen, in den Warthegau, umsiedeln. Es gibt eine Reihe von Punkten, die nicht in das Gesamtbild von einem Hitler passen, der seinen Eroberungsplänen in Bezug auf die Ukraine konsequent gefolgt ist. Ich denke, zu einem richtigen Hitler-Bild gehören auch diese Widersprüche.
National-Zeitung: Was hat Hitler dann zum 22. Juni 1941, dem Angriff auf die Sowjetunion, bewogen?
Schultze-Rhonhof: Hitler versuchte damals, aus dem Krieg gegen England herauszukommen. England hatte alle Kolonien gegen Deutschland aufgestachelt. Die Amerikaner griffen de facto bereits in den Krieg ein. Die Sowjetunion marschierte schon auf und Molotow stellte im November 1940 in Berlin neue territoriale Ansprüche, so dass Hitler wusste: Wenn der Krieg mit England noch lange weitergeht, fallen die Sowjets irgendwann über ihn her. Er greift nun die Sowjetunion an, weil er sich sagt, wenn wir die jetzt bezwingen, werden die Engländer vielleicht nachgeben, weil sie wissen, dass wir den Rücken frei haben.
National-Zeitung: Was waren Aha-Erlebnisse, die Sie bei der Arbeit an Ihrem Buch hatten?
Schultze-Rhonhof: Ein Aha-Erlebnis war, dass bis in den Nachmittag des 31. August 1939 verhandelt worden ist, um den Krieg zu vermeiden. In der deutschen Literatur, auch in den Schulbüchern, steht heute, dass Hitler 1939 Krieg um jeden Preis gewollt habe. Aber bis zum Schluss ist von deutscher Seite darum gerungen worden, das Danzig-Problem, das Korridor-Problem und das Problem der geschundenen deutschen Minderheit in Polen zu lösen. Das wird auch deutlich an dem 16 Punkte umfassenden deutschen Verhandlungsangebot vom 30. August 1939. Trotzdem hat Hitler den Krieg riskiert. Das ist sein Fehler und seine Schuld. Schon während des Vormarschs in Polen und nach dessen Niederwerfung machte Hitler immer wieder Friedensvorschläge an Engländer und Franzosen: Deutschland geht raus aus Polen, behält Danzig und den nicht polnisch besiedelten Teil des Korridors.
Ein zweites Aha-Erlebnis war, dass Hitlers gesamte öffentliche Reden einen einheitlichen Tenor hatten, nämlich: Frieden, Frieden, Frieden. Von daher hat die Bevölkerung annehmen müssen, es handele sich um einen Friedenskanzler. Wenn Hitler über Krieg sprach, dann immer nur geheim und in geschlossenen Zirkeln. Von diesen Geheimreden hat die deutsche Bevölkerung erst 1946 durch den Nürnberger Prozess Kenntnis bekommen.
National-Zeitung: Wobei diese so genannten „Schlüsseldokumente“ umstritten sind.
Schultze-Rhonhof: Da sind erhebliche Fälschungen enthalten. Fest steht, dass Hitler bei mehreren Gelegenheiten offen von der Möglichkeit des Krieges gesprochen und angedeutet hat, dass er auch bereit ist, Krieg zu führen. Aber die Formulierungen sind nicht erwiesen, weil es zu keiner Rede ein offizielles Protokoll gibt. Zu Hitlers Rede vom 22. August 1939 liegen zum Beispiel sieben Mitschriften von Anwesenden vor. Diese Mitschriften weichen stark voneinander ab. Man stellt dann auch fest, dass die klotzigsten Bemerkungen in den meisten Protokollen nicht vorkommen und dass die im Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg Angeklagten, die bei diesen Reden dabei waren, in getrennten Verhören übereinstimmend bei einigen Passagen erklärten: Das hat Hitler nicht gesagt.
National-Zeitung: Welcher Gesichtspunkt wird in der heutigen Darstellung der Vorgeschichte des Krieges am meisten unterbelichtet?
Schultze-Rhonhof: Die deutsche Nachkriegsgeschichtsschreibung bringt ausschließlich die Deutschland belastende Perspektive und verleugnet, dass es auch eine andere Betrachtungsweise gibt. Und ich habe versucht, diese andere Betrachtungsweise mit in den Blick zu nehmen. Ich habe das Buch vor allem für junge Menschen geschrieben. Die jungen Deutschen sollten wissen, was mit uns gespielt wurde und wird.
National-Zeitung: Sind wir durch den ständigen Blick auf die Vergangenheit blind für aktuelle Gefahren? Der Teufel kommt für gewöhnlich nicht zweimal durch dieselbe Tür.
Schultze-Rhonhof: Heute drohen in der Tat völlig andere Gefahren. Wir sind demographisch im Sinkflug, wir sind finanziell und vor allem monetär im Sturzflug. Wir sind bildungsmäßig im Sinkflug. Die Aufzählung ist damit längst nicht am Ende. Wir sind in einer Vorkatastrophensituation, niemand spricht darüber, alle hoffen, es werde nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. 1950 hat jeder Deutsche im Durchschnitt drei Wochen im Jahr für Zinszahlungen gearbeitet. Auch wer keine Schulden hat, muss ja letztlich über Preise, Steuern und Gebühren Zinslasten tragen. 1975 waren daraus sieben Wochen geworden. Im Jahr 2000 hat jeder Deutsche im Durchschnitt über ein Vierteljahr nur für Zinszahlungen gearbeitet. Wenn Sie das weiterrechnen, werden wir im Jahre 2025 die Hälfte des Jahres für Zinsen arbeiten, für die wir nichts zurückkriegen. Das ist eine Falle, die zu einer nationalen Katastrophe wird.
National-Zeitung: Herr General, in der Bundeswehr stoßen viele politische Entscheidungen auf Widerspruch, der aber kaum geäußert wird. Wie frei ist der Soldat heute?
Schultze-Rhonhof: Solange Sie im Dienst sind, müssen Sie beurteilen, ob Sie mit Ihrem Protest Ihre Entlassung riskieren. Die Frage müssen Sie sich vorher beantwortet haben. Ich hing sehr an meinem Beruf. Als ich in einer öffentlichen Rede das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen „Soldaten sind Mörder“ und die weitere Verkürzung der Grundwehrdienstdauer gerügt habe, war mir klar, was dabei rauskommen konnte – und letztendlich ist es ja auch so gekommen.
National-Zeitung: Haben Sie den Eindruck, dass, wer die Uniform trägt und von Berufs wegen zur Tapferkeit gegenüber äußeren Feinden gehalten ist, an politischer Courage einbüßt?
Schultze-Rhonhof: Nein, der Soldat ist da wie jeder Bürger. Ob Sie Journalist, Abgeordneter, Beamter, Lehrer oder Offizier sind – es ist immer das Gleiche. Sobald Sie etwas sagen, das politisch nicht genehm ist, sind Sie geliefert. Ich habe das bei Abgeordneten erlebt, die mir sagten: „Da krieg ich Schwierigkeiten mit meiner Fraktion.“ Mehrfach habe ich von Journalisten – große Namen des deutschen Zeitungswesens – auf meine Frage „Warum veröffentlichen Sie das nicht?“ die fast stereotype Antwort erhalten: „Das würde ich nicht überleben.“ Es wird überall mit gleich harten Bandagen vorgegangen.