Deskriptiv – präskriptiv
Freie Wissenschaft ist deskriptiv
('beschreibend'):
Sie dokumentiert, was sich belegen (re-
produzieren) läßt; sie indoktriniert nicht,
was Interessensgruppen als wahr hinstel-
len möchten.
Linguistik, die Wissenschaft von der
Sprache, wird daher an einem "Lehrstuhl
für deskriptive Sprachwissenschaft"
gelehrt.
Eine andere als die deskriptive Sprach-
forschung und -lehre wird nicht als
Wissenschaft betrachtet, und das hat
seinen Grund:
Sprache gehört zum Menschen und läßt
sich mit seiner Entwicklung und Biolo-
gie selbst vergleichen: Sie ist mit ihm
vor langer, langer Zeit entstanden
(Phylogenese), und sie entsteht in je-
dem aufwachsenden Kind neu
(Ontogenese).
Am Anfang war also nicht die Regel, die
die Sprache geschaffen hätte, sondern
die Sprache, in der ihre Sprecher ab
einem gewissen Kulturstand Regelmäßig-
keiten, eben Regeln, zu erkennen bzw.
interpretieren begannen.
Regeln sind ursprünglich also nicht
das, was wir als Schüler im (Fremdspra-
chen-) Unterricht als Handlungs- bzw.
Sprachanweisung kennenlernen; Regeln
sind zunächst der Versuch eines Lingu-
isten, eine Sprache so zu beschreiben,
daß mit den erkannten Regeln diese
Sprache auch von Nicht-Muttersprachlern
authentisch reproduziert werden kann.
Je genauer die Analyse und Beschreibung
der Struktur einer Sprache ist, desto
brauchbarer ist ihre Grammatik auch in
der Vermittlung (dem Vorschreiben)
sprachlicher Strukturen.
Dasselbe gilt für Wortschatz und Schrift.
Richtig sind also Wörterbücher und Gram-
matiken dann, wenn sie den tatsächli-
chen Sprachstand widerspiegeln, also zu
einer Sprache und Schrift anleiten, die
der Norm – dem in einer Sprachgemein-
schaft Gewohnten – entspricht.
(Auch das Wort "Grammatik" selbst bedeu-
tet in erster Linie die 'Wissenschaft
von den sprachlichen Formen, ihren Re-
gelmäßigkeiten und ihren Funktionen im
Satz' und erst in zweiter Linie jenes
Buch, das manchem von uns in jungen
Jahren so viel Verdruß bereitet hat.)
Man mag die amtliche Schreibreform teil-
weise oder pauschal befürworten oder
ablehnen: Aus (sprach-) wissenschaft-
licher Sicht ist sie falsch, denn sie
versteht das Regelwerk der Rechtschrei-
bung nicht mehr als präzise Beschrei-
bung der tatsächlichen Strukturen und
Normen, der Regelmäßigkeiten und Ausnah-
men in einer Sprache, sondern mißver-
steht es – allerdings ganz bewußt – als
Sammlung von Anweisungen, nach denen
man sich gefälligst zu richten habe.
Ein Wissenschaftler, der dieses Prinzip
nicht hochhält, ist nicht frei,
ist kein Wissenschaftler mehr.
Rechtsschreibung
"Orthographie" bedeutet 'Rechtschreibung',
und Rechtschreibung – da werden die
meisten Deutschen sofort zustimmen –
bedeutet 'richtige Schreibung', und als
richtig galt lange das, was im Duden
stand.
Richtig waren die Aussagen des Dudens
aber nicht etwa deshalb – und das ist
keineswegs allen Menschen in Deutsch-
land bewußt –, weil dieses Lexikon ih-
nen vorschrieb, was richtig zu sein
hatte; richtig waren seine Angaben viel-
mehr gerade deshalb, weil sie den tat-
sächlichen Sprachstand widerspiegelten:
Die 'richtige Schreibung' war immer die
Schreibweise, die den Menschen 'recht'
war, weil sie auf einer ausdrücklichen
oder stillschweigenden Übereinkunft der
deutsch schreibenden Bevölkerung beruhte!
Die neue "Rechtschreibung" hingegen ist
eine 'Schreibung von Rechts wegen':
eine Schreibweise, die gegen den mehr-
heitlichen Willen der Bevölkerung für
Recht erklärt wurde und mit Rechtsmit-
teln durchgesetzt wird.
Richtig muß es daher "Rechtsschreibung"
(mit Doppel-s weil 'Schreibung des
Rechts') heißen – aber nicht einmal den
eigenen Namen will diese Zwangsreform
richtig schreiben, weil sie wider bes-
seres Wissen und totalitär die Richtig-
keit ihrer Schreibung in Anspruch nimmt.
Ist es nicht bezeichnend für die neue
"Recht(s)schreibung", daß ihr erstes
Opfer ihr eigener Name ist?
http://www.schriftdeutsch.de/orth-li1.htm