Schönes Interview mit Sloterdijk gefunden:
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FOCUS: Zu diesem Zwecke ersetzte man Begriffe wie Versagen, Faulheit oder auch einfach Missratensein durch die alles umkehrende Frustration, die dann aufs „System“ abgewälzt wurde – richtig?
Sloterdijk: Solche Ausdrücke hätten ihren Benutzer damals moralisch vernichtet. Sie gehörten zum Mief von 1000 Jahren. Man sollte nicht vergessen, dass die politische Korrektheit in mehreren Wellen kam. Von der ersten Welle an konnte es „Verlierer“, „Versager“ und so weiter nicht mehr geben. Eine ganze Phalanx von Ausdrücken der konservativen Anthropologie ist damals außer Kraft gesetzt worden. Dass derartige Begriffe jetzt ungeniert wiederkommen, verrät, dass der Konservatismus seine Sprache reorganisiert hat und dass man die soziologischen Entschuldigungen nicht länger ...
FOCUS: ... bezahlen kann?
Sloterdijk:Die Reiseflughöhe der kollektiven Illusion hängt immer mit der Finanzlage zusammen. Das Projekt der 68er war natürlich grandios illusionär. Sie haben das Prinzip Umsonst auf breiter Front inthronisiert und behauptet, die entscheidenden Dinge dürfen nichts kosten.
(...)Sloterdijk: Fairness war für die Aktiven von 1968 kein Kriterium. Eine Generation von NS-Mitläufern, die sich in den Aufbau flüchten, hatte kein Anrecht auf einen ausgewogenen Prozess, nicht wahr? In einem absoluten Sinn stand ihre Verworfenheit fest, doch hatten sie die Chance, sich relativ zu entschulden, indem sie die Mittel für die Illusionsproduktion der nächsten Generation bereitstellten. Aber hat nicht Kultur immer mit einer Positivierung des Parasitismus zu tun? Aus heutiger Sicht lag die 68er-Bewegung exakt in dem Trend, der zur Konsumgesellschaft führt. Ohne es zu ahnen, waren wir, die westdeutschen Früh-Hedonisten, die Labormäuse des totalen Konsumismus.Dass sich der linke Faschismus als Kommunismus zu präsentieren beliebte, war eine Falle für Moralisten. Mao Tse-tung war nie etwas anderes als ein linksfaschistischer chinesischer Nationalist, der anfangs den Jargon der Moskauer Internationale pflegte. Gegen Maos fröhlichen Exterminismus gehalten, erscheint Hitler wie ein rachitischer Briefträger. Doch man scheut noch immer den Vergleich der Monstren. Das massivste ideologische Manöver des Jahrhunderts bestand ja darin, dass der linke Faschismus nach 1945 den rechten lauthals anklagte, um ja als dessen Opponent zu gelten. In Wahrheit ging es immer nur um Selbstamnestie.Aber was heißt fundamentale Liberalisierung? Im Lichte der heute gemachten Erfahrungen bedeutet das die Freigabe aller Dinge fürs Neu-Design und für den Verbrauch. Man hat mehr Demokratie gewagt, um mehr Konsum zu wagen. Alle Wege von 68 führen letzten Endes in den Supermarkt.