Müller: Ich habe drei Kliniken mitbekommen, weil ich den Arbeitgeber in der Hoffnung auf bessere Bedingungen gewechselt habe. Es gibt unterschiedliche Dienstsysteme und Organisationsformen, manche Häuser beschäftigen beispielsweise mehr Personal für Bürokratie. Je strukturierter alles ist, umso besser. Aber in einigen Kliniken geht alles durcheinander. Wenn man frei hat, wird man dauernd angerufen, ob man doch einspringen kann. Die Strukturlosigkeit und wenig Personal fördern natürlich Krankheit und der Teufelskreis beginnt von vorne.
ZEIT ONLINE: So etwas macht natürlich den Alltag mit Familie noch komplizierter.
Müller: Den gibt es unter diesen Bedingungen schlicht nicht, weil eh jeder Tag anders ist. Machbar ist das nur im alten Familienmodell, wo einer arbeitet und einer daheimbleibt und dort alles regelt.
ZEIT ONLINE: Haben Sie das mal thematisiert in den Häusern?
Müller: Ja, gerade die Vereinbarkeit habe ich oft angesprochen. Ich habe mehrfach mit dem Betriebsrat geredet, Veränderungen der Dienstmodelle vorgeschlagen. Aber selbst wenn mir viele Kollegen vor den entscheidenden Besprechungen zugestimmt haben, war ich in der Sitzung immer eine Einzelkämpferin und die meisten anderen Ärzte blieben still. Die befürchteten Restriktionen, wenn sie Freizeit einfordern.
ZEIT ONLINE: Warum?
Müller: Schlussendlich wird immer über Geld argumentiert, also dass andere Organisationsformen weniger einbringen. Gleichzeitig verändert es einiges am Gehalt, wenn man keine langen Dienste mehr macht – und da ist das Einkommen vielen Kollegen und Kolleginnen eben wichtiger. Hinzu kommt:
Sehr viele der Oberärzte leben noch das alte Familienmodell und sehen ihre Frauen und Kinder wenig. Sie sind durch noch viel anstrengendere Phasen gegangen, hatten beispielsweise 72-Stunden-Dienste. Sie kennen es also nicht anders. Ich möchte meine Patienten mit gutem Gewissen mit der bestmöglichen Qualität versorgen. Effizient, konzentriert und aktiv bin ich eben nur, wenn ich auch Zeit für persönlichen Ausgleich habe. Vor allem, weil wir heute in derselben Zeit viel mehr Patienten betreuen als früher. Wo man noch vor ein paar Jahren zehn Patienten pro Schicht behandelt hat, sind es mittlerweile 60. Der Qualitätsverlust der Arbeit unter diesem Zeitdruck wird unterschätzt.