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Am 2. Mai 1945 wurde Robert H. jackson, Richter am amerikanischen Ober-
sten Gerichtshof, zum amerikanischen Oberstaatsanwalt für den geplanten
Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher ernannt. jackson vertrat die Auffas-
sung, daß der Angriffskrieg illegal und kriminell sei, auch wenn es für das vor-
gesehene Gerichtsverfahren keine Präzedenzfälle gebe.
Auf der Londoner Konferenz, die vom 26. Juni bis zum 2. August 1945 dau-
erte, unternahmen die Rechtssachverständigen der Alliierten den Versuch, eine
gemeinsame Rechtsgrundlage für das geplante Verfahren gegen die Haupt-
kriegsverbrecher auszuarbeiten.
Die Vertreter der französischen und der sowjetischen Delegation vertraten
die Ansicht, daß der Angriffskrieg keine kriminelle Verletzung des Völkerrechts
darstelle und daß man, falls Krieg als eine kriminelle Tat von Individuen auf-
gefaßt werde, sich außerhalb des geltenden Rechts bewege.
Im Gegensatz zu
seinen europäischen Kollegen glaubte jackson darauf bestehen zu müssen, daß
der Angriffskrieg eine strafbare kriminelle Handlung sei. Zwar habe Deutsch-
land die Vereinigten Staaten nicht angegriffen, aber die USA hätten die Partei
der europäischen Verbündeten ergriffen, weil sie den deutschen Angriff als
illegal angesehen hätten. Diese Position habe die amerikanische Regierung ge-
genüber ihrem Volk vertreten, und sie habe die gesamte amerikanische Politik
während des Krieges bestimmt. Wenn die These von der Unrechtmäßigkeit
des Angriffskrieges nicht stimme, dann wäre die amerikanische Politik falsch
gewesen. Aber, so fügte jackson hinzu, »ich bin nicht hier, um diesen Irrtum
einzugestehen oder zu beichten, daß die USA den Krieg irrtümlich als illegal
betrachteten oder fälschlich glaubten, ein überflüssiger Krieg in Europa stellte
das größte aller Verbrechen in unserem Jahrhundert dar«.
2 Diese Argumenta-
tion war aus amerikanischer Sicht sehr einleuchtend, aber sie war kaum geeig-
net, verbindliches Völkerrecht zu schaffen.
Als es im Verlauf der Londoner Konferenz zu Differenzen über verfahrens-
technische Fragen kam und jackson mit dem Rückzug der Vereinigten Staaten
von dem gemeinsamen Unternehmen drohte, beschwichtigten ihn die Vertre-
ter der anderen Mächte. Dabei ließ der britische Vertreter die Worte fallen:
»Unsere Aufgabe ist es, die führenden Nazis vor Gericht zu ziehen, sie zu ver-
urteilen und viele von ihnen hinrichten zu lassen.«3 Damit war ausgesprochen,
daß Schuld und Urteil in diesem Prozeß von vornherein feststanden.
2Report of Robert H. jackson, United States Representative to the International Conference
on the Military Trials, London 1945, Washington 1949, S. 384.
3 Ebenda, S. 344.
Seite 11Außerdem wurde das Gericht für zuständig erklärt, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen und zu bestrafen.
Trotz der Absicht jacksons, mit dem Nürnberger Urteil neues Völkerrecht
zu schaffen, geht aus den Beratungen der Londoner Konferenz klar hervor,
daß das Gesetz lediglich für diesen einen Fall festgelegt wurde. Gemäß Artikel
6 der Satzung sollten lediglich Angehörige der europäischen Achsenmächte
für ihre angeblichen Verbrechen gegen den Frieden zur Verantwortung gezo-
gen werden. An sich waren diese Verbrechen nicht strafbar; Strafbarkeit be-
stand nur für den Angriffskrieg im Interesse der Achsenmächte. Da wegen die-
ses Verbrechens lediglich Deutsche angeklagt wurden, bezog sich die Nünber-
ger Satzung ausschließlich auf deutsche Staatsbürger. Es handelte sich damit
einwandfrei um ein Ausnahmegesetz.
Die Anschauung, daß Angriffskrieg ein Verbrechen sei, wurde von jackson
vom Kellogg-Briand-Pakt von 1928 abgeleitet, der seinerzeit auch von Deutsch-
land unterzeichnet worden war. Dieser Vertrag, der offiziell der Pakt von Paris
genannt wurde, stellt aber nur eine sehr schwache völkerrechtliche Grundlage
dar. Der Artikel l des Pariser Paktes besagt, daß die Signatarmächte Krieg zur
Lösung internationaler Streitigkeiten verurteilen und auf Krieg als Instrument
nationaler Politik verzichten. Mit dem Artikel 2 verpflichteten sich die Unter-
zeichner, alle Streitigkeiten jedweder Art auf friedliche Weise zu lösen. Der
Vertrag verurteilte den Krieg als Instrument nationaler Politik; aber durch die
Präambel war lediglich bestimmt, daß Mächte, die ihre Nationalinteressen durch
Krieg zu fördern suchten, der Vorteile des Vertrages verlustig gingen. Von ei-
ner Strafbarkeit des Angriffskrieges war im Vertragstext keine Rede. Aufgrund
der Kürze und Unbestimmtheit seiner Formulierungen hatte der Pariser Pakt
kaum mehr als deklaratorische Bedeutung.
Seite 13In seiner Begründung zeigt das Nürnberger Urteil aber unübersehbare Schwä-
chen. Als Beweis für die langfristigen aggressiven Planungen der deutschen
Führung werden nur relativ wenige Dokumente vorgelegt, in der Hauptsache
die Protokolle der Geheimkonferenzen hitlers vom 5. November 1937,23. Mai
1939, 22. August 1939 und 23. November 1939. Diese Protokolle sind aber in
einigen Fällen nichtssagend oder mehrdeutig, in anderen Fällen wurden sie
von den Angeklagten als zumindest in Teilen gefälscht bezeichnet. Dieser Vor-
wurf ist, wenn man einige unsinnige Textstellen betrachtet, nicht völlig von der
Hand zu weisen.
Sehr viel schwerwiegender als die Verwendung einiger umstrittener Doku-
mente ist aber die Tatsache, daß im Nürnberger Urteil die deutsche Führung
als alleiniger Akteur auf der internationalen Bühne erscheint, während die Re-
gierungen der gegnerischen Staaten scheinbar völlig passiv das Unheil abge-
wartet haben. So wird zum Beispiel im Abschnitt über die deutsche Aggression
gegen die Tschechoslowakei mit keinem Wort erwähnt, daß die Sudetendeut-
schen seit Jahrhunderten österreichische Staatsbürger waren und 1918 gewalt-
sam in die neugegründete Tschechoslowakei hineingezwungen wurden, daß
sie in den folgenden Jahren von den Tschechen systematisch unterdrückt wur-
den und daß die Sudetendeutschen schließlich 1938 das Selbstbestimmungsrecht
und den Anschluß an das Deutsche Reich forderten. Ebensowenig werden die
Unterdrückung der Volksdeutschen durch Polen, die provokative Politik War-
schaus gegenüber Berlin, der Inhalt der deutschen Verhandlungsangebote oder
gar die britische Einkreisungspolitik gegenüber Deutschland erwähnt.
Der Versailler Vertrag, der ohne jeden Zweifel eine Hauptwurzel der Übel
war, die Europa nach 1919 heimgesucht haben, durfte während des Prozesses
überhaupt nicht angesprochen werden; gleichzeitig wurde den Angeklagten
aber immer wieder vorgeworfen, daß sie diesen Vertrag gebrochen hätten. Im
Falle des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion nimmt das Gericht zwar die
von den Angeklagten vorgetragene Präventivkriegsthese, der zufolge der deut-
sche Angriff einem geplanten und vorbereiteten sowjetischen Angriff nur zu-
vorgekommen sei, zur Kenntnis, weist sie aber ohne überzeugende Begrün-
dung zurück. Im Urteil heißt es dazu nur,
»man kann unmöglich glauben«.
Die Mängel des Nürnberger Prozesses sind zweifellos vielfältig, aber wie
auch immer man diese im einzelnen bewerten mag, im Nürnberger Urteil wurde
einzig und allein die nationalsozialistische Führungsgruppe für schuldig be-
funden.
Die Reichsregierung, der Generalstab und das Oberkommando der
Wehrmacht wurden als Körperschaften von allen angeführten Verbrechen, auch
von dem Verbrechen gegen den Frieden, freigesprochen. Der Urteilsspruch des
Internationalen Militärgerichtshofs hat allen Kollektivschuldthesen eine Absage
erteilt und weder den deutschen Nationalstaat noch das deutsche Volk mit der
Schuld am Zweiten Weltkrieg belastet. Daß die Medien und ein Teil der Ge-
schichtsschreibung seither einen anderen Eindruck erweckt haben, steht auf
einem anderen Blatt.
Seite 18Nur wenige Historiker hatten so sichere Positionen, daß sie es sich leisten konnten, unangenehme Wahrheiten zu sagen - sofern sie überhaupt den Wunsch dazu verspürten. Hinzu kam, dass der Kalte Krieg und seine Bedrohungsszenarien ein gesellschaftliches Klima schufen, in dem die Menschen nach mentaler Sicherheit suchten und wenig geneigt waren, die politischen Grundlagen des eigenen Staates in Frage zu stellen. Im Ergebnis produzierte die Geschichtswissenschaft in den USA und in Europa - wie immer in Kriegszeiten - weniger objektive Darstellungen als vielmehr regierungsnahe Propaganda. Hinzu kam, daß ein wichtiger Motor für die revisionistische Geschichtsschreibung ausfiel. Die Regierungen der Weimarer Republik hatten nach 1918 den Revisionismus nach Kräften unterstützt, aber die Bundesrepublik Deutschland lehnte ihn seit der Kanzlerschaft adenauers in jeglicher Form ab. Für dieses Verhalten gibt es keine offizielle Erklärung, so daß man über die Motive nur spekulieren kann.
Die revisionistische Diskussion der Ursachen des Zweiten Weltkrieges be-
gann kurz nach 1945 in den USA. Ausgangspunkt war die Tätigkeit eines Untersuchungsausschusses des amerikanischen Kongresses, der sich 1945/46 mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor befaßte. Im Laufe dieser Untersuchung kamen derart skandalöse Dinge zutage, daß es zwei verschiedene Abschlußberichte gab, einen der demokratischen Mehrheit und einen der republikanischen Minderheit. In dem Minority Report, der von zwei republikanischen Senatoren verfaßt war, wurden Präsident roosevelt und sein innerer Kreis namentlich beschuldigt, für die Katastrophe von Pearl Harbor verantwortlich zu sein.
17 Deutsche Übersetzung: George morgenstern,
Pearl Harbor 1941. Eine amerikanische Katastrophe. Hrsg. und ins Deutsche übertragen von Walter post, München 1998.
18 Charles A. beard,
President Roosevelt and the Coming of the War. A Study in Appearances and Realities, New York 1948; Harry E. barnes (Hrsg.),
Perpetual War for Perpetual Peace, Caldwell, Idaho 1953.