15.07.2009 05:00 Uhr Drucken
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Mehr Macht für Europa
Warum das Bundesverfassungsgericht mit seiner Betonung nationaler Vorrechte einen schwierigen Weg beschritten hat
Von Von Jürgen Rüttgers
Deutschland steht am Scheideweg. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon stellt die Grundrichtung der bisherigen deutschen Europapolitik in Frage. Es ist Wasser auf die Mühlen all jener, die immer noch der Nationalstaatsidee des 19. Jahrhunderts anhängen und den Integrationsgedanken des 21. Jahrhunderts ablehnen.
Weltwirtschaftskrise, Klimawandel, Terrorismus - die großen Herausforderungen der Gegenwart sind nicht mehr auf nationaler Ebene zu lösen. Wir können sie nur noch in einer neuen Weltordnung bewältigen. Die Europäische Union muss dabei vorangehen - und sie wird es nur können, wenn sie in der Lage ist, mit einer Stimme zu sprechen. Gelingt ihr das nicht, wird sie in Bedeutungslosigkeit versinken.
Die Krise lehrt: Wir dürfen die weitere Vertiefung der europäischen Integration nicht aufgeben. Sonst fällt die EU im globalen Wettbewerb der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts zurück. Das würde nicht nur weniger Wohlstand bedeuten. Wir könnten auch bei der Gestaltung einer neuen Weltordnung nicht den Einfluss geltend machen, den wir Europäer nur gemeinsam haben.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts kann dazu führen, dass genau das passiert, was die Menschen in Europa nicht wollen: dass die EU zurückfällt, dass wir Wohlstand einbüßen und dass Europa als Weltordnungsmacht geschwächt und nicht gestärkt wird. Das Urteil stellt alle großen europapolitischen Weichenstellungen Deutschlands in der Zukunft unter erheblichen Vorbehalt. So wichtig es ist, Bundestag und Bundesrat in ihren europapolitischen Kompetenzen zu stärken: Eine künftige Bundesregierung wird es viel schwerer haben, Europa voranzubringen. Denn nach dem Urteil hat nationales Recht grundsätzlich Vorrang vor europäischem Recht.
Das Bundesverfassungsgericht konstruiert einen Gegensatz zwischen dem allein demokratisch legitimierten Nationalstaat und den immer mehr Kompetenzen beanspruchenden europäischen Institutionen, die aber im Kern nicht demokratisch legitimiert seien. Das führt in die Irre. Die EU vereint nicht Staaten, sondern Völker. Eine Gleichsetzung von Volk, Nation und Staat beruht auf einem überholten Denken.
Konkret bedeutet das: Wir dürfen uns durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht in eine Sackgasse manövrieren lassen. Wir müssen offen bleiben für neuartige Lösungen für neuartige Probleme. Wir müssen handlungsfähig bleiben, um die Europäische Union weiterentwickeln zu können - zum Beispiel, um eine gemeinsame Institution zur Regulierung der Finanzmärkte zu schaffen. Deutschland muss hier auch in Zukunft eine Führungsrolle ausüben können. Wir dürfen nicht zulassen, dass mit diesem Urteil eine Renationalisierung der deutschen Politik eingeleitet und legitimiert wird.
Im Gegenteil: Wir müssen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Aufruf verstehen, Europa auf Dauer eine neue Form übernationaler Staatlichkeit zu geben. Nur weil die Europäische Union heute noch ein Demokratiedefizit hat, dürfen wir uns den Weg zu einem demokratisch gestalteten europäischen Bundesstaat nicht verbauen.
Auf dem Weg zu einer supranationalen Staatlichkeit ist der Vertrag von Lissabon nur ein Anfang. Es ist wichtig, dass mit diesem Vertrag die Rechte des Europäischen Parlaments deutlich gestärkt werden. Aber wir dürfen hier nicht stehenbleiben. Das Bundesverfassungsgericht mahnt, dass das "Missverhältnis zwischen Art und Umfang der ausgeübten Hoheitsrechte und dem Maß demokratischer Legitimation" aufzulösen sei. Dem kann ich nur zustimmen. Was spricht dagegen, das europäische Parlament in Zukunft weiter zu stärken? Was spricht dagegen, es mit einem eigenen Initiativrecht auszustatten? Warum sollte es nicht eine demokratisch legitimierte "zweite Kammer" neben der Staatenkammer geben?
Wenn Europa etwas Neues ist, müssen auch neue Wege gegangen werden. Eine stärkere Parlamentarisierung des europäischen Parlaments würde dazu beitragen, eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen. Ein europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl gibt es schon heute. Wir sind Deutsche und Europäer. Aber diese europäische Identität ist anders und wird auch in Zukunft anders sein als die nationale Identität.
Eines ist klar: Um dieses demokratisch legitimierte Europa zu schaffen und die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts entstandenen Unklarheiten zu beseitigen, müssen wir das Grundgesetz ändern. Es bedarf keiner Abschaffung des Grundgesetzes. Die Bundesrepublik Deutschland soll ja auch nicht aufgelöst werden. Es kommt vielmehr Neues hinzu. Bei einer Konföderation werden die Mitgliedstaaten schließlich auch nicht abgeschafft. Europa ist kein Staatenbund und hat trotzdem schon viele Souveränitätsrechte übernommen.
Ängste, das Subsidiaritätsprinzip werde dann endgültig auf der Strecke bleiben, sind unbegründet. Im Gegenteil: Dieser Weg eröffnet die Chance, die föderalen Strukturen in Europa zu stärken. Niemand will dabei die Verfassungsidentität Deutschlands aufheben, auch nicht in Zukunft. Die Grund- und Menschenrechte werden durch das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht in Deutschland sowie durch die Charta der europäischen Grundrechte und den Europäischen Gerichtshof geschützt.
Einer der Gründungstexte der europäischen Bewegung war die berühmte Züricher Rede von Winston Churchill. Er forderte bereits 1946 die "Vereinigten Staaten von Europa". Kurz: Europa braucht ein großes Ziel, sonst fällt es auseinander. Das hat der Ratifizierungsprozess des Lissabon-Vertrages uns wieder einmal vor Augen geführt. Unser Ziel kann nur mehr Integration sein - um Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand auch für unsere Kinder zu sichern.
Der nächste Schritt ist die Ratifikation des Lissabon-Vertrags. Das große Ziel aber ist die Bundesrepublik Deutschland als Teil der "Vereinigten Staaten von Europa". Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Wir müssen unter Umständen bereit sein, dieses Ziel in einem kleinen Kreis zu verwirklichen. Jeder europäische Staat ist eingeladen, sich einer solchen Avantgarde anzuschließen. Eines ist sicher: Deutschland und seine Bundesländer werden dabei gewinnen.