Die Welt / 15.03.2017 / von Holger Zschaepitz
Schulden der Türkei werden zum Druckmittel
Ankara hat bei anderen Ländern hohe Verbindlichkeiten, auch bei Deutschland und den Niederlanden. Eine Milliardensumme könnte zum Risiko werden
Was hat die Türkei ökonomisch gegen uns in der Hand? Bisher gibt es als Antwort auf diese Frage immer nur eine: die Flüchtlinge. Sollte Ankara den mühsam ausgehandelten Deal mit der Europäischen Union (EU) platzen lassen und die Grenzen öffnen, könnten wieder Hunderttausende gen Europa wandern. Doch dies ist nicht die einzige Drohkulisse, mit der Präsident Erdogan der EU begegnen kann.
Europas Banken gehören zu den wichtigsten Gläubigern der Türkei. In Zeiten wackeliger Bankbilanzen ist derjenige der Schwache, der Kredite vergibt, und nicht mehr der, der das Geld bekommen hat. Ein Blick auf die wahren Abhängigkeiten offenbart, dass es insbesondere den Ländern der Euro-Zone nicht egal sein kann, was mit der Türkei passiert. Knapp ein Jahr nach der letzten Bankenkrise muss Europa erneut um die Stabilität des Finanzsektors bangen.
Gut 270 Milliarden Dollar, umgerechnet 255 Milliarden Euro, haben die Banken weltweit der Türkei geliehen. Vor allem spanische Geldhäuser müssen zittern: Immerhin führen sie mit 87 Milliarden Dollar (82 Milliarden Euro) die Liste der Gläubiger an. Französische Häuser haben rund 42 Milliarden Dollar im Feuer, deutsche Institute rund 15 Milliarden Dollar und italienische immerhin noch rund elf Milliarden Dollar.
Das geht aus den Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsverkehr (BIZ) hervor, welche die Finanzverquickungen weltweit beobachtet. Die Daten machen auch deutlich, dass mit den spanischen und italienischen Banken insbesondere auch jene besonders betroffen sind, die sich nach einer schweren Krise erst wieder erholen. Die spanischen Institute mussten erst im Sommer 2012 mit EU-Hilfsgeldern gerettet werden. Italien hat zum Jahresanfang mit staatlichen Mitteln das strauchelnde Bankhaus Monte dei Paschi mit einer Geldspritze gerettet und dafür eine Genehmigung aus Brüssel eingeholt.
Die Finanzkraft vieler Institute ist trotzdem noch immer so niedrig, dass schon kleinere Verluste erhebliche Auswirkungen haben können. Erst Anfang des Monats hatte die Deutsche Bank eine Kapitalerhöhung über rund zehn Milliarden Euro angekündigt, um sich einen Risikopuffer zuzulegen, um Turbulenzen besser trotzen zu können.
Die Türkei war für viele westliche Institute lange das gelobte Land. Nach der Bankenreform zu Beginn der 2000er-Jahre und der beispiellosen wirtschaftlichen Entwicklung wollten die großen Geldhäuser mitverdienen. Die junge, aufstrebende und konsumfreudige Bevölkerung galt als attraktive Zielgruppe. Diese mit Bankdienstleistungen zu versorgen verhieß schnelle und hohe Gewinne. Und so folgten viele der Verheißung.
Zwei Strategien verfolgten die Geldhäuser. Einige wie die spanische BBVA, die französische BNP Paribas oder die italienische UniCredit kauften sich direkt bei türkischen Banken ein, andere Banken wie HSBC oder ING gründeten eigene Töchter. Allen ist eines gemein: Aus dem Wachstumsmarkt mit quasi unbegrenzten Möglichkeiten ist ein hoch politisierter und riskanter Bankenplatz geworden.
Die türkische Wirtschaft ist im dritten Quartal des vergangenen Jahres um 1,8 Prozent geschrumpft, es war das erste Minus seit der Großen Finanzkrise 2009.
Zu den Verlierern der Entwicklung gehört die spanische BBVA. Sie hält fast 40 Prozent am lokalen Player Garanti. Die Türkei ist damit nicht nur ein wichtiger Ertragsfaktor für das Haus. Rund 14 Prozent der Gewinne werden dort erwirtschaftet, türkische Anlagen stehen für fünf Prozent der Bilanzsumme. Die Bank hat Kredite im Wert von 55,6 Milliarden Euro ausstehen. Die italienische UniCredit kontrolliert gut 40 Prozent der Yapi Kredit Bank, nach Berechnungen der Deutschen Bank hängen vier Prozent des Kreditportfolios vom Wohl und Wehe der türkischen Kredite ab.
Die französische BNP ist über ihre Privatkundenbank TEB am Bosporus präsent. 2,5 Prozent der Verbraucherkredite sind in der Türkei vergeben, ähnlich sieht es für die niederländische ING aus. Die Türkei gilt für die Niederländer als herausfordernder Wachstumsmarkt. Momentan dürfte die Herausforderung überwiegen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat den Niederlanden „Staatsterrorismus“ vorgeworfen. Er drohte im Streit um die Absage mehrerer Wahlkampfauftritte türkischer Minister den Niederlanden zudem mit weiteren Sanktionen. Er rief dazu auf, beim Referendum über die Einführung des Präsidialsystems mit Ja zu stimmen, da dies die beste Antwort für „die Feinde der Türkei“ sei.
Die Banken werden die politische Lage penibel im Blick behalten und gegebenenfalls ihre Engagements anpassen. Allerdings ist das nicht so einfach. HSBC wollte im vergangenen Jahr sein verlustbringendes Engagement am Bosporus zurückfahren, fand aber laut Informationen der Nachrichtenagentur Reuters keinen passenden Käufer. Die Türkei wiederum ist dringend auf die Finanzhäuser angewiesen. Schließlich lebt das Land über seine Verhältnisse, die heimischen Ersparnisse reichen nicht aus, um den Konsum und die Investitionen zu finanzieren. So ist das Land von ausländischem Kapital abhängig. Aktuell beträgt die Lücke rund 33 Milliarden im Jahr. Und da spielen westliche Banken durchaus eine tragende Rolle.
Die deutschen Institute haben in den vergangenen Jahren ihre Kreditvergabe bereits deutlich reduziert. Verdoppelten sie das Volumen zwischen 2005 und 2013 von zehn auf über 20 Milliarden Euro, beträgt das aktuelle Engagement nur noch gut 14 Milliarden Dollar. Umgerechnet rund 3,4 Milliarden Dollar haben die deutschen Häuser laut BIZ-Statistik dem türkischen Staat geliehen, fünf Milliarden Dollar privaten Firmen und Haushalten, und weitere vier Milliarden stecken in türkischen Banken.
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