Westeuropa hat 30 Jahre einer indirekten Zuwanderung in den Sozialstaat hinter sich. Da die Lohnersatzleistungen des Sozialstaates die Löhne der gering Qualifizierten künstlich erhöht haben, war ein Übermaß an Zuwanderung und Arbeitslosigkeit die Folge: Statt sich mit den Zuwanderern auf eine Niedriglohnkonkurrenz einzulassen, haben sich die Einheimischen in den Sessel drängen lassen, den der Sozialstaat für sie bereit hielt. Wegen der Freizügigkeitsrichtlinie könnte Westeuropa 30 Jahre der direkten Migration in den Sozialstaat vor sich haben.
Eine schleichende Migration in die Sozialstaaten wird folgen. Da kein Staat zum Ziel von Wohlfahrtswanderungen werden möchte und die Diskriminierung zwischen Ein- und Zuwanderern verboten ist, werden die Staaten Westeuropas reihum ihre Sozialleistungen kürzen. Europa wird eine lange Periode eines Abschreckungswettbewerbs gegenüber der Armutsmigration erleben, während derer sich der Kontinent allmählich von einem Teil seiner traditionellen sozialen Errungenschaften verabschieden wird.
Die EU wird versuchen, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen, indem sie die Leistungen der Sozialstaaten harmonisiert. Der Entwurf der neuen EU-Verfassung, der in Frankreich und Holland scheiterte, ist von dieser Absicht beseelt. Da die Harmonisierung vermutlich Lohnersatzleistungen wie Sozialhilfe und Arbeitslosengeld betreffen wird, wird sie Europa freilich noch mehr schaden. Harmonisierte Lohnersatzleistungen bedeuten einheitliche Mindestlöhne für die EU-Länder. Angesichts der großen realen Unterschiede zwischen diesen Ländern wird es sich dann nicht vermeiden lassen, dass große Teile des Kontinents in die Arbeitslosigkeit gedrängt werden.
Noch ist Zeit, das Unheil abzuwenden. Aber dazu müsste die Freizügigkeitsrichtlinie so geändert werden, dass das Migrationsrecht nicht einen Anspruch auf alle Sozialleistungen des Gastlandes impliziert. Wenn das Heimatland weiterhin für die Sozialleistungen an die nicht-erwerbstätigen Zuwanderer verantwortlich bliebe, könnte die Erosion der EU-Sozialstaaten vermieden werden.
Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München.